Tagesevangelium

Johannes Tauler

   Unser Herr sagte, dass seine Jünger selig seien aufgrund dessen, was ihre Augen sahen (vgl. Lk 10,23). Näher besehen, sollten wir genauso selig sein; denn wir sehen unseren Herrn Jesus Christus vollkommener als die Jünger damals, sei es der heilige Petrus oder der heilige Johannes.<!--more--> Sie sahen einen armen, schwachen, leidenden, sterblichen Menschen; wir hingegen erkennen ihn dank unseres heiligen und kostbaren Glaubens als den großen, anbetungswürdigen und mächtigen Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, der die ganze Schöpfung aus dem Nichts geschaffen hat. Wenn wir dies recht bedenken, finden unsere Augen, ja, unsere Seelen ewiges Glück.

Meine lieben Kinder, die großen Theologen und Gelehrten setzen sich mit der Wissensfrage auseinander und untersuchen, was wohl wichtiger und edler sei: die Erkenntnis oder die Liebe. Wir aber wollen lieber darüber sprechen, was die Meister des Lebens sagen; denn wenn wir in den Himmel kommen, dann werden wir sehr wohl die Wahrheit aller Dinge erkennen. Hat nicht unser Herr gesagt: „Nur eines ist notwendig“? Was ist denn dieses Eine, das so notwendig ist? Das einzig Notwendige ist, dass du deine Schwachheit und deine Erbärmlichkeit erkennst. Du kannst auf nichts Anspruch erheben; aus dir selbst bist du nichts. Wegen dieses einen Notwendigen litt unser Herr solche Qualen, dass er Blut schwitzte. Denn weil wir dieses Eine nicht anerkennen wollten, rief der Herr am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Ja, der Erlöser, das einzig Notwendige für uns, musste von allen völlig verlassen werden.

Liebes Kind, lass alles fahren, was ich selbst und alle Lehrer dir beibringen konnten, lass ab von allem Tätigsein, von aller Kontemplation, von aller hohen Betrachtung und befasse dich nur mit diesem Einen, damit es dir gewährt wird, und du hast gut gearbeitet. Deshalb sagte unser Herr: „Maria hat den besseren Teil gewählt“, ja den besten von allen. Wahrlich, wenn du ihn erlangen könntest, hättest du alles erlangt: nicht nur einen Teil des Guten, sondern das Ganze.

Quelle: Evangelizo

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