Tagesevangelium

Johannes Tauler

Denken wir über die Zusage des Herrn nach, dass er „alles an sich ziehen“ will (Joh 12,32 Vulg). Wer alles an sich ziehen will, muss zuerst alles sammeln, dann kann er es an sich ziehen. So verhält sich unser Herr. Er ruft den Menschen zunächst aus seinem Ausschwärmen und Abschweifen zurück und lässt ihn seine Sinne, seine Fähigkeiten, Worte und Taten sammeln und im Inneren seine Gedanken, seine Gesinnung und Vorstellungskraft, seine Wünsche und Neigungen, seinen Verstand, seinen Willen und seine Liebe sammeln. Wenn so alles gut gesammelt ist, zieht Gott den Menschen an sich; denn zuerst musst du dich trennen von allen äußeren oder inneren Gütern, an die du dich gebunden hast und die dein ganzes Wohlgefallen gefunden haben. Diese Loslösung ist ein mühsamer Kreuzweg, der umso mühsamer ist, je fester und inniger die Bindung gewesen ist. […]

Warum hat Gott zugelassen, dass kaum ein Tag und eine Nacht dem vorhergehenden Tag und der vorhergehenden Nacht gleicht? Warum ist das, was dir heute bei der Andacht hilfreich war, morgen keinerlei Hilfe mehr? Warum sind in dir eine Menge Bilder und Gedanken, die zu nichts führen? Liebes Kind, nimm dieses Kreuz von Gott an und trage es; es würde dir ein durchaus liebenswertes Kreuz werden, wenn du diese Prüfungen Gott anheimstellen könntest, sie in echter Hingabe von ihm annehmen und ihm dafür danken könntest: „Meine Seele preist in allem die Größe des Herrn“ (vgl. Lk 1,46). Ob Gott nimmt oder gibt – der Menschensohn muss am Kreuz erhöht werden. Liebes Kind, lass das alles, bemühe dich vielmehr um wahre Hingabe […]; und denke eher daran, das Kreuz der Versuchung anzunehmen, als nach der Blume geistlicher Süße zu verlangen. […] Unser Herr hat gesagt: „Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Lk 9,23).

Quelle: Evangelizo

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