Tagesevangelium

Johannes Cassianus

Ist jemand dahin gelangt, das Gute zu lieben und Gott nachzuahmen […], wird er die Gesinnung der Langmut annehmen, die dem Herrn eigen war, und ebenso wie dieser für seine Verfolger beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34).

Auf der anderen Seite erkennt man eine noch nicht von den Lastern gereinigte Seele deutlich daran, dass die Fehler ihres Nächsten statt Barmherzigkeit und Mitleid nur das strenge Urteil eines Richters in ihr hervorrufen. Wie kann man die Vollkommenheit des Herzens erlangen, wenn einem das fehlt, was nach den Worten des Apostels die Erfüllung des Gesetzes ist: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal 6,2); wenn man die Tugend der Liebe nicht besitzt, die „sich nicht ereifert, nicht aufbläht, das Böse nicht nachträgt, die alles erträgt und allem standhält“ (vgl. 1 Kor 13,4-7)? Denn „der Gerechte hat Mitgefühl mit seinem Vieh, das Gemüt der Gottlosen aber ist erbarmungslos“ (Spr 12,10 LXX).

Der Mönch – das steht fest – unterliegt den gleichen Lastern, die er bei anderen mit harter und unmenschlicher Strenge verurteilt. Tatsächlich heißt es: „Der strenge König wird ins Unglück stürzen“ (Spr 13,17 LXX); und: „Wer sein Ohr verstopft, um den Schwachen nicht zu hören, wird selbst rufen, und keiner wird da sein, der ihn hört“ (Spr 21,13 LXX).

Quelle: Evangelizo

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