Die Demut ist die Meisterin aller Tugenden, sie ist das unerschütterliche Fundament des himmlischen Gebäudes, die eigentliche, herrliche Gabe des Erlösers. Durch sie wird derjenige ohne Gefahr der Überhebung alle Wunder wirken können, die der Herr getan hat, der versucht, immer dem sanften Herrn nachzufolgen, nicht in der Erhabenheit seiner Zeichen, sondern in der Tugend der Geduld und der Demut. […]
Wenn also jemand vor unseren Augen Wunderzeichen tut, so sollen wir ihn nicht wegen der staunenerregenden Zeichen hochschätzen, sondern allein wegen des Adels seiner Lebensführung; und wir sollten nicht nachforschen, ob ihm die Dämonen gehorchen, sondern ob er die Eigenschaften der Liebe besitzt, die der Apostel aufzählt. Und in der Tat ist es ein größeres Wunder, aus dem eigenen Fleisch den Zunder der Wollust herauszureißen, als unreine Geister aus fremden Körpern zu vertreiben; und es ist ein herrlicheres Zeichen, durch die Tugend der Geduld die wilden Bewegungen des Zornes im Zaum zu halten, als den Gewalten der Luft zu gebieten. Ebenso ist es etwas Größeres, die verzehrenden Bisse der Traurigkeit aus dem eigenen Herzen zu verbannen, als die körperlichen Krankheiten und Fieber anderer zu vertreiben. Schließlich ist es in vielerlei Hinsicht eine edlere Tugend und ein erhabenerer Fortschritt, die Schwächen der eigenen Seele zu heilen, als die eines fremden Körpers.
Denn je höher die Seele über das Fleisch erhaben ist, desto wertvoller ist ihr Heil. Je kostbarer und ausgezeichneter ihre Substanz ist, desto schlimmer und verderblicher wäre ihr Ruin. Über körperliche Heilungen wird den heiligen Aposteln gesagt: „Freut euch nicht darüber, dass euch die Geister gehorchen“ (Lk 10,20), denn es war nicht ihre Macht, sondern die Kraft des angerufenen göttlichen Namens, die diese Wunder bewirkte. Deshalb werden sie gewarnt, weder Seligkeit noch Ruhm für das zu beanspruchen, was nur durch die Macht und Kraft Gottes bewirkt wird, sondern nur für die innerste Reinheit ihres Lebens und ihres Herzens, die es verdient, dass ihre Namen im Himmel verzeichnet sind.
Quelle: Evangelizo